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Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht : Thema: Gerichte & Justizbehörden

10 Jahre Mahnmal für die Opfer der NS-Justiz - Sind wir gegen eine Wiederholung gefeit?

Ein Beitrag von Prof. Dr. Heribert Ostendorf, Generalstaatsanwalt a.D., Kiel

Letzte Aktualisierung: 08.06.2022

Vor 10 Jahren, am 2. April 1993 wurde das Mahnmal „Der Gehenkte“ vom Justizminister Dr. Klaus Klingner der Öffentlichkeit übergeben. Lea Rosh hielt die Gedenkrede. Die Skulptur wurde von dem Worpsweder Bildhauer Waldemar Otto geschaffen, sie steht vor dem Haupteingang des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig. „Der Gehenkte“, in Bronze gegossen, hat keine individuellen Gesichtszüge, mit dem offenen Rücken ist er ein menschlicher Torso.

Das Mahnmal provoziert, „es verstößt gegen den guten Geschmack“ (Waldemar Otto). Das war beabsichtigt, um endlich, 48 Jahre nach Beendigung der NS -Terrorherrschaft ein Erinnerungszeichen für die Opfer der NS-Justiz zu setzen, um die Mitschuld der Justiz am NS-Unrecht deutlich zu machen. Als Initiator habe ich damals gesagt: „Schleswig-Holsteins Justiz bekennt sich zum ersten Mal mitschuldig.“ Es sollte aber nicht nur eine Erinnerung an die Opfer, ein Bekennen zur Mitschuld sein, es sollte vor allem Mahnung für die Zukunft sein. Deshalb wurde unter Leitung des Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts, Volker Lindemann, eine Mahnmalgruppe gegründet, die mit großem Engagement eine viel beachtete Dauerausstellung geschaffen hat.

Manche im „Roten Elefanten“ waren damals mit dem Mahnmal, vor allem mit dem zentralen Standort vor dem Gebäude des Oberlandesgerichts gar nicht einverstanden. Sie fühlten sich in ihrer Berufsehre getroffen, befürchteten mit der NS-Justiz gleichgesetzt zu werden. Auch wurde eingewandt, das Mahnmal stehe am falschen Platz. In diesem Gebäude, in dem erst nach 1945 das Oberlandesgericht als Ausgleich für die verlorene „Hauptstadtfunktion“ eingerichtet wurde, war kein Todesurteil gefällt worden.

In Kiel, vor dem heutigen Justizministerium, sei der richtige Standort. Auch an anderen Stellen muss sich unsere Gesellschaft zu ihrer Vergangenheit im Guten wie im Bösen bekennen. Aber gerade hier, in der jetzigen Justizhauptstadt von Schleswig-Holstein, war dieses Bekenntnis geboten. „Welcher Platz wäre geeigneter?“ - Diese theoretische Frage stellt zu Recht Christian Degn im Kapitel „Denkmale im Widerstreit der Meinungen“, Historischer Atlas „Schleswig-Holstein - eine Landesgeschichte“ (2. Aufl., 1995). 10 Jahre Mahnmal ohne Beschmierungen, ohne rechtsradikale Parolen zeigen auch, dass es in der Öffentlichkeit respektiert wird.

Aber wird die Mahnung heute noch verstanden, verstanden vor allem von den Juristen für ihr heutiges Handeln, für die heutige Gesetzesanwendung? Der personelle Austausch der Mitschuldrichter und Mitschuldstaatsanwälte, die nach 1945 wieder nach der „Huckepack-Regelung“ in den Justizdienst aufgenommen wurden - jeder Entlastete nahm huckepack einen Belasteten mit, später auch mehr -, ist abgeschlossen. Personelle Kontinuitäten sind damit unterbrochen. Geistig-ideologische Kontinuitäten werden nur am Rande der Gesellschaft verbreitet. Allerdings hören die heutigen Jurastudenten von der NS-Justiz und ihren Verbrechen in ihrer Ausbildung nur vereinzelt, vertiefend nur in Seminaren. Es gibt zwar Möglichkeiten zur Information, so auch in der Veranstaltungsreihe, die von dem jetzigen Richter am Oberlandesgericht, Andreas Martins, alljährlich organisiert wird. Trotzdem, auch angesichts des erneuten Versagens eines Teils der deutschen Justiz, im SED-Unrechtsstaat, stellt sich die Frage, sind wir gegen eine Wiederholung gefeit? Könnten nicht gerade auch Denkmäler dazu verführen, diese Vergangenheit als einzigartig, als einmalig zu begreifen? Die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt im Staate wird zwar von den Richtern, von den Berufsverbänden hochgehalten, die Unabhängigkeit von den Regierenden. Gibt es aber nicht auch innere Abhängigkeiten, Abhängigkeiten von dem Mainstream unter den Kollegen, Abhängigkeiten von höheren Richterstellen, zumal wenn man etwas werden will in der Justizhierarchie? Die herrschende Meinung wird doch in der Juristenausbildung schon zu einem Argumentationsersatz. Wer stellt sie fest, wer zählt die abweichenden Stimmen? Wer macht sich klar, dass über neue Gesetze und Verordnungen die Justiz immer auch verlängerter Arm der Legislative ist, wobei die Gesetze heute nicht mehr von den Abgeordneten selbst, sondern von der Ministerialbürokratie formuliert werden, von den Regierenden. Und Staatsanwälte können schon von Gesetzes wegen nur auf ihre innere Unabhängigkeit vertrauen.

Die Berechtigung dieser kritisch-drängenden Fragen wird durch eine Betrachtung des Phänomens „Gedankenlosigkeit im Umgang mit NS-Begriffen“ untermauert. Sprache wirkt als Kommunikationsmittel nicht nur auf andere ein; Sprache formt das eigene Bewusstsein, nicht tastend, nicht suchend in Form von Selbstgesprächen, sondern sich selbst bestätigend. Sprache drückt vorhandene Bewertungen aus, Sprache wirkt aber auch rückkoppelnd auf diese ein. Die gedankenlose Verwendung von falschen, zumindest irreführenden Begriffen kann zur Übernahme falscher Bewertungen führen. Das Wort von der nationalsozialistischen Machtergreifung am 30. Januar 1933 vertuscht, dass diese Regierungsmacht Hitler übertragen wurde vom damaligen Reichspräsidenten Hindenburg, dass sich hierfür einflussreiche Kreise in der Wirtschaft, in der Reichswehr, die Hugenbergische Presse stark gemacht hatten, auch wenn der SA-Terror schon vorher die Macht auf den Straßen erobert hatte. Hitler selbst sprach dementsprechend verschleiernd von der „nationalen Erhebung“.

Die heute gebräuchliche Bezeichnung des NS-Staates als „Drittes Reich“ vernebelt nicht nur den nationalsozialistisch-verbrecherischen Charakter des Regimes, sondern übergeht auch, dass die Weimarer Republik Ausgangspunkt dieses Machtapparates war. Das sogenannte Ermächtigungsgesetz, das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat vom 24. März 1933, stützt sich ausdrücklich auf die Reichsverfassung der Weimarer Republik, es wurde auch später durch die Gesetze vom 30. Januar 1937, vom 30. Januar 1939 sowie durch den „Erlass des Führers über die Reichsgesetzgebung“ vom 10. Mai 1943 im Sinne eines „Münchhausen-Streichs“ verlängert.

Der Begriff der Konzentrationslager, insbesondere auch seine Abkürzung „KZ“, ist sicherlich im heutigen Sprachgebrauch negativ besetzt. Der Wortlaut besagt aber nur, dass Menschen in Lagern konzentriert worden sind. Zu Beginn des NS-Regimes wurde sogar von Schutzhaft-Lagern gesprochen. Der wahre Charakter der Lager als zunächst illegale Inhaftierungslager und später mehr und mehr als Vernichtungslager wird mit dem neutralen Begriff „Konzentrationslager“ nicht offengelegt.

Die staatliche Mordaktion vom 30. Juni und 1. Juli 1934 wird paradoxerweise mit dem von Hitler konstruierten Anlass, dem sogenannten Röhm-Putsch, zum Ausdruck gebracht. Zusätzlich wird mit dieser Bezeichnung nicht deutlich, dass nicht nur Röhm und andere SA-Führer liquidiert wurden, sondern auch politische Gegner und missliebige Parteigenossen. Wie sehr das Recht missbraucht werden kann, zeigt die Legitimierung dieser Mordaktionen durch den damals angesehenen Staatsrechtslehrer Carl Schmitt, indem er Hitler zum obersten Gerichtsherren des deutschen Volkes erklärte, der „unmittelbar Recht schafft“ (Deutsche Juristenzeitung 1934, S. 945).

Schlimm ist die Verharmlosung der Tötungen, Gewalttätigkeiten und Brandstiftungen am 8./9. und 10. November 1938 mit dem Begriff „Reichskristallnacht“, zumal damit allenfalls das Zerschlagen der Glasfenster erfasst wird. Erst mit der Bezeichnung „Reichsprogromnacht“ wird das organisierte Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung deutlich. Dass die Juden nicht nur die ihnen zugefügten Schäden auf eigene Kosten - Versicherungsansprüche wurden zu Gunsten des Reichs beschlagnahmt - beseitigen mussten, sondern von ihnen auch eine gesamtschuldnerische Sühneleistung von 1 Milliarde Reichsmark verlangt wurde (siehe Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben vom 12. November 1938 sowie Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehöriger vom 12. November 1938, Reichsgesetzblatt I, S. 1581 beziehungsweise. 1579), ist die Perversion des Rechts.

Dass der Begriff der Euthanasie für den tausendfachen Mord an Geisteskranken und missgebildeten Kindern geradezu eine Verhöhnung der Opfer darstellt, ist allgemein bekannt, trotzdem hat sich der Begriff eingebürgert.

Und schließlich das Ende des NS-Regimes: Der 8. Mai 1945 wird vielfach immer noch als Tag der Niederlage begriffen und nicht als ein Tag der Befreiung von der NS-Diktatur. Allerdings identifizierte sich in der Tat ein Großteil der Bevölkerung bis zum Schluss mit dem Regime. So schrieb ein schleswig-holsteinischer Dorfschullehrer Anfang Mai 1945 in seiner Dorfchronik: „Nun ist es so weit. Der Führer tot! Und mit ihm alle Hoffnung dahin.“ (Dorfchronik der Gemeine Felde, Band 2, 1988, S. 111).

Gegenüber soviel Gedankenlosigkeit gilt es, die Geschehnisse, die Verbrechen, begangen auch im Gewande der Justizrobe und in der Juristensprache, beim wahren Namen zu nennen. Es gilt zu erkennen, dass die Juristerei sich immer wieder auf Grundwerte und Verfassungsgrundsätze beziehen muss, um nicht politisch, im schlimmsten Fall verbrecherisch instrumentalisiert zu werden. Das Resümee über die Juristen von Alexis de Tocqueville galt für die Juristen der Vergangenheit und seiner Epoche: „Wenn man aufmerksam untersuchte, was sich in der Welt zugetragen hat, seit die Menschen die vergangenen Ereignisse im Gedächtnis bewahren, könnte man mühelos feststellen, dass sich in allen zivilisierten Ländern neben einem Despoten, der befiehlt, fast immer ein Jurist findet, der dessen willkürliche und unzusammenhängende Willensakte in eine Ordnung und Übereinstimmung bringt. Die allgemeine und unbestimmte Liebe zur Macht, die die Könige erfüllt, ergänzen sie durch die Freude an der Methode und die Kenntnis von den Einzelheiten der Herrschaft, über die sie selbstverständlich verfügen. Jene verstehen es, die Menschen vorübergehend zum Gehorsam zu zwingen; diese besitzen die Kunst, sie fast freiwillig zu ständiger Fügsamkeit zu beugen. Die einen liefern die Macht, die anderen das Recht. Jene gelangen durch Willkür zur höchsten Macht, diese durch Legalität. An dem Schnittpunkt, an dem sie sich begegnen, entsteht ein Despotismus, der der Menschheit kaum die Luft zum Atmen lässt; wer nur an den Fürsten denkt, nicht an den Juristen, kennt nur die eine Seite der Tyrannei; um das Ganze zu erfassen, muss man aber beide zugleich im Auge haben.“ (Gesellschaft und Politik Frankreichs vor und seit 1789, nach Geiss, Tocqueville und das Zeitalter der Revolution, 1972, S. 129).

Zumindest für die Juristen im „Dritten Reich“ gilt diese Beurteilung weiter. Dieses offen zu legen und die Abgründe aus einer Machtausübung im Namen des Rechts sich immer wieder bewusst zu machen als notwendige Voraussetzung dafür, eine Wiederholung zu vermeiden, ist die bleibende Funktion des Mahnmals.

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