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Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht und Sozialgerichte : Thema: Gerichte & Justizbehörden

Die grundsicherungsrechtliche Bedürftigkeit von Eltern wird auch dann durch die wirtschaftlichen Verhältnisse ihres erwachsenen Kindes beeinflusst, wenn das Kind seinen Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen deckt und in einer Haushaltsgemeinschaft mit seinen Eltern lebt

Letzte Aktualisierung: 07.12.2021

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21. Juli 2021, L 3 AS 93/21 B ER (PDF, 113KB, Datei ist barrierefrei)

Das staatliche Fürsorgerecht in der Bundesrepublik Deutschland sichert Personen mit geringem oder gar keinem Einkommen, dass diese ihren notwendigen Lebensunterhalt bestreiten können; gewährleistet werden soll für bedürftige Personen – in Erfüllung des Menschenwürdegebots des Grundgesetzes (Art. 1 Abs. 1 GG) – die Sicherung eines sozio-kulturellen Existenzminimums. Die Gewährung lebensunterhaltssichernder Leistungen erfolgt nach verschiedenen Büchern des Sozialgesetzbuches in Abhängigkeit davon, ob die Bedürftigen erwerbsfähig sind oder nicht. Besteht Erwerbsfähigkeit, so sind Hilfebedürftige im Grundsatz anspruchsberechtigt nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), in dem die Grundsicherung für Arbeitsuchende geregelt ist. Bei fehlender Erwerbsfähigkeit gibt es einen Anspruch auf Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Für den Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist der Begriff der Hilfebedürftigkeit in § 9 SGB II und der Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II definiert. Die hauptsächliche Grundsicherungsleistung, die nach dem SGB II an erwerbsfähige Hilfebedürftige gewährt wird, ist das Arbeitslosengeld II (Alg II). Ausgezahlt wird die Leistung in der Regel vom örtlich zuständigen Jobcenter, das einen von der Bundesagentur für Arbeit und der Kommune (Kreis oder kreisfreie Stadt) gebildeten gemeinsamen Sozialleistungsträger darstellt; möglich ist aber auch die Leistungserbringung in alleiniger Verantwortung der zuständigen Gebietskörperschaft als sogenannte Optionskommune (vgl. dazu §§ 6a ff. und 44b SGB II). Als solche sind in Schleswig-Holstein lediglich die Kreise Schleswig-Flensburg und Nordfriesland zugelassen, in allen anderen Kommunen bestehen Jobcenter zur Erfüllung der Leistungen nach dem SGB II. Von zentraler Bedeutung für die Höhe des Alg II – und auch für das Sozialgeld, das beispielsweise Kindern bis zur Vollendung ihres 14. Lebensjahres gewährt wird – ist das konkrete Ausmaß der Hilfebedürftigkeit der anspruchsberechtigten Person. Zwar setzt sich das Alg II grundsätzlich aus dem Regelbedarf (§ 20 SGB II), der sich seit dem 1. Januar 2021 für eine alleinstehende hilfebedürftige Person auf 446,00 EUR/Monat beläuft, aus den gemäß § 21 SGB II gegebenenfalls bestehenden Mehrbedarfen und aus dem Wohnbedarf im Sinne des § 22 SGB II zusammen. Soweit die hilfebedürftige Person aber eigenes Einkommen erwirtschaftet, das nicht ausreicht, um ihren grundsicherungsrelevanten Bedarf vollständig zu decken, ist dieses Einkommen nach den – im Einzelfall durchaus komplizierten – Regelungen der Alg II-Verordnung auf den Leistungsanspruch nach dem SGB II anzurechnen; der Anspruch auf Alg II verringert sich dadurch. Schwieriger stellt sich die Lage dar, wenn mehrere Personen in einem Haushalt zusammenleben und das von einer dieser Personen erwirtschaftete Einkommen zwar ausreichte, deren eigenen lebensunterhaltsrelevanten Bedarf zu decken, aber nicht ausreicht, um die grundsicherungsrechtlich anzuerkennenden Bedarfe aller zusammenlebenden Personen abzudecken. In einem solchen Fall geht das Gesetz von einer verhältnismäßigen bzw. anteiligen Bedürftigkeit der zusammenlebenden Personen aus. Von zentraler Bedeutung ist dabei, ob die zusammenlebenden Personen eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des Gesetzes bilden, nur eine Haushaltsgemeinschaft oder aber eine bloße Wohngemeinschaft. In dem hier interessierenden Fall des Zusammenlebens eines Ehepaares mit ihrem erwachsenen Sohn gilt im Grundsatz, dass eine Bedarfsgemeinschaft zwischen allen Dreien nur solange bestehen kann, bis das Kind das 25. Lebensjahr vollendet hat. Auch wenn das Kind älter als 25 ist, kann dessen wirtschaftliche Situation für den Anspruch seiner Eltern nach dem SGB II aber von Bedeutung sein, wie der folgende Rechtsstreit zeigt.

Der Fall

Die 63-jährige Antragstellerin, die in laufendem Bezug von Alg II steht, bewohnt zusammen mit ihrem 70-jährigen Ehemann, der eine Altersrente in Höhe von 245,31 EUR/Monat bezieht, und ihrem 27-jährigen Sohn eine Mietwohnung. Der Sohn erzielt aus seiner Erwerbstätigkeit ein monatliches Arbeitsentgelt in Höhe von 1.805,51 EUR netto. Für den Zeitraum vom 1. Mai 2021 bis zum 30. April 2022 bewilligte das zuständige Jobcenter der Antragstellerin monatliche Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 665,48 EUR, die sich aus einem Regelbedarf von 401,00 EUR/Monat für Ehegatten, Unterkunftskosten in Höhe von 209,15 EUR und Heizkosten in Höhe von 55,33 EUR zusammensetzten. Bedarfsminderndes Einkommen wurde dabei nicht berücksichtigt. Auf Nachfrage des Jobcenters teilte die Antragstellerin Ende April 2021 mit, dass sich ihr Sohn monatlich mit 300,00 EUR an den Verpflegungskosten und mit 209,14 EUR an den zu leistenden Mietzahlungen beteilige. Daraufhin änderte das Jobcenter die Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 10. Mai 2021 dahingehend ab, dass die Antragstellerin im Zeitraum vom 1. Juni 2021 bis zum 30. April 2022 nur noch monatliches Alg II in Höhe von insgesamt 395,48 EUR erhalte, weil bei ihr ein monatliches Einkommen von 270,00 EUR anspruchsmindernd zu berücksichtigen sei. Daraufhin beantragte die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Lübeck im Wege eines gerichtlichen Eilverfahrens den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der das Jobcenter verpflichtet werden sollte, ihr auch weiterhin SGB II-Leistungen in der ursprünglich bewilligten Höhe – also in Höhe von 665,48 EUR/Monat – auszuzahlen. Zur Begründung führte die Antragstellerin aus, dass sie von den 300,00 EUR, die sie monatlich von ihrem Sohn erhalte, ausschließlich für diesen Dinge des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel, Seife und Zigaretten einkaufe; für ihren eigenen Lebensunterhalt stehe ihr der Betrag hingegen nicht zur Verfügung. Das Sozialgericht lehnte den Antrag ab; zu Recht habe das Jobcenter den vom Sohn der Antragstellerin gezahlten monatlichen Betrag – abzüglich einer Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 EUR – als Einkommen berücksichtigt, weil der Zuschuss zu den Verpflegungskosten nicht unter den in § 11a SGB II enthaltenen Katalog von Einkommensarten falle, die im Rahmen des Alg II-Bezuges unberücksichtigt blieben. Das Vorbringen, wonach die Antragstellerin verpflichtet sei, den Betrag ausschließlich zur Deckung des Bedarfs ihres Sohnes an Lebensmitteln etc. zu verwenden, sei demgegenüber unbeachtlich, weil die entsprechende schuldrechtliche Verpflichtung der Antragstellerin gegenüber ihrem Sohn nicht zu einer grundsicherungsrechtlich beachtlichen Verringerung des von dem Sohn zur Verfügung gestellten Betrages führe. Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin am 30. Juni 2021 Beschwerde zum Landessozialgericht erhoben und vorgebracht, dass ihr Sohn die Zahlung des monatlichen Zuschusses mittlerweile eingestellt habe; zuletzt habe er Anfang Juni 2021 einen Zuschuss von 300,00 EUR zu den Lebenshaltungskosten der Familie geleistet.

Die Entscheidung

Die Beschwerde der Antragstellerin hatte in Teilen Erfolg. So verpflichtete das Landessozialgericht das Jobcenter, der Antragstellerin für zukünftige, d.h. nach Anhängigmachung des Beschwerdeverfahrens liegende, Zeiträume – konkret vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2021 höheres Alg II zu gewähren, als mit dem Änderungsbescheid vom 10. Mai 2021 festgesetzt worden waren. Dabei ging allerdings auch das Landessozialgericht davon aus, dass – auch über den Monat Juni 2021 hinaus – bei der Antragstellerin ein monatlicher Kostenzuschuss des Sohnes als Einkommen zu berücksichtigen sei. Denn zwischen der Antragstellerin, ihrem Ehemann und dem gemeinsamen Sohn bestehe eine Haushaltsgemeinschaft; unter Berücksichtigung des Arbeitsverdienstes des Sohnes sei von diesem auch die Zahlung einer Unterstützungsleistung an seine Mutter zu erwarten. Die schlichte Behauptung der Antragstellerin aus dem Beschwerdeverfahren, wonach ihr Sohn die Zahlung des Verpflegungskostenzuschusses mit Juni 2021 eingestellt habe (die Beteiligung an den monatlichen Mietkosten aber weiterhin zahle), sei hingegen unglaubhaft und könne die gesetzliche Vermutung für die Leistung einer Unterstützungszahlung durch den Sohn nicht widerlegen. Gleichwohl habe das Jobcenter den Betrag des aufgrund der monatlichen Zahlungen des Sohnes der Antragstellerin zu berücksichtigenden Einkommens mit 270,00 EUR in einer unzutreffenden Höhe angerechnet. Nach den detaillierten Vorgaben in der Alg II-Verordnung sei bei Unterstützungszahlungen von Verwandten innerhalb einer Haushaltsgemeinschaft lediglich die Hälfte des Betrages als Einkommen zu berücksichtigen, der den gesetzlich anzuerkennenden Eigenbedarf des unterstützenden Verwandten übersteige. Zudem sei das Einkommen des unterstützenden Verwandten um die Freibeträge nach § 11b SGB II zu bereinigen. Der dem Sohn der Antragstellerin zuzubilligende Freibetrag setze sich aus der zweifachen Höhe der Regelleistung eines Alleinstehenden (892,00 EUR), den auf ihn entfallenden Kosten der Unterkunft (ein Drittel der Gesamtkosten, was hier einen Betrag in Höhe von 209,14 EUR ergab) und den auf ihn entfallenden Heizkosten (in Höhe von 55,33 EUR) zusammen und betrage mithin 1.156,47 EUR. Zudem sei das Netto-Einkommen des Sohnes von 1.805,51 EUR um Freibeträge in Höhe von insgesamt 300,00 EUR zu bereinigen. Von dem verbleibenden Einkommen (1.505,51 EUR) sei der vorgenannte Freibetrag abzuziehen, so dass ein Betrag von 309,04 EUR verbleibe. Der hälftige Betrag dieser Summe – mithin 174,52 EUR – sei monatlich als Unterstützungsleistung des Sohnes bei dem Alg II-Anspruch der Antragstellerin zu berücksichtigen. Weil das Jobcenter aber 270,00 EUR berücksichtigt habe, stehe der Antragstellerin monatlich ein um 95,48 EUR/Monat höherer Leistungsanspruch nach dem SGB II zu als in dem Änderungsbescheid vom 10. Mai 2021 ausgewiesen. Zur Gewährung dieses höheren Alg II-Betrages verpflichtete das Landessozialgericht das Jobcenter.

Das Recht

Zunächst war für den streitbefangenen Leistungsanspruch der Antragstellerin von Relevanz, welche der mit ihr zusammenwohnenden Familienmitglieder mit ihr eine Bedarfsgemeinschaft bildeten. Der Begriff der Bedarfsgemeinschaft ist in § 7 Abs. 3 SGB definiert und für die Ermittlung eines Anspruchs auf Alg II von wesentlicher Bedeutung. Denn beim Zusammenleben in einer Bedarfsgemeinschaft fließen grundsätzlich auch das Einkommen und Vermögen der anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft in die Prüfung der Hilfebedürftigkeit der um Leistungen nachsuchenden Person ein (vgl. § 9 Abs. 2 SGB II). Nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 lit. a) SGB II stellt der Ehegatte grundsätzlich ein Bedarfsgemeinschaftsmitglied dar. Hier war das (geringe) Renteneinkommen des Ehemanns allerdings von vornherein nicht zu berücksichtigen, weil er die Altersgrenze des § 7a SGB II bereits überschritten hat und deshalb schon nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II vom Bezug von Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende ausgeschlossen ist. Erwachsene Kinder rechnen nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II nur bis zu ihrem 25. Geburtstag zur Bedarfsgemeinschaft, und das auch nur, solange sie im gemeinsamen Haushalt mit ihren Eltern wohnen, unverheiratet sind und die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Bleiben die Kinder – wie vorliegend – über die Vollendung ihres 25. Lebensjahres hinaus bei ihren Eltern wohnen und erzielen eigenes Erwerbseinkommen, so wird § 9 Abs. 5 SGB II bedeutsam. Danach besteht eine gesetzliche Vermutung dafür, dass Hilfebedürftige, die mit Verwandten oder Verschwägerten in einer Haushaltsgemeinschaft zusammenleben, von diesen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Solche Leistungen gehen Leistungen durch das Jobcenter vor und verringern deshalb den Anspruch auf Alg II. Der Begriff der Haushaltsgemeinschaft ist aber – anders als der der Bedarfsgemeinschaft – im SGB II nicht definiert. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordert eine Haushaltsgemeinschaft ein nicht nur vorübergehendes Zusammenwohnen und ein gemeinsames Wirtschaften. Es ist qualitativ mehr erforderlich als das in Wohngemeinschaften anzutreffende gemeinsame Wohnen, innerhalb derer grundsätzlich getrennt gewirtschaftet wird, d.h. anfallende Kosten strikt aufgeteilt und abgerechnet werden. Es bedarf vielmehr eines Wirtschaftens „aus einem Topf“ (vgl. BSG, Urteil vom 27. Januar 2009, B 14 AS 6/08 R, NZS 2009, 681 ff.). Dass die Antragstellerin zusammen mit ihrem Ehemann und vor allem auch mit ihrem Sohn eine Haushaltsgemeinschaft in diesem Sinne bildete, war hier nicht streitig.

Konkreter als bei dem Begriff der Haushaltsgemeinschaft wird das Gesetz dann wieder bei dem Tatbestandsmerkmal „soweit eine Leistung nach dem Einkommen (…) der in Haushaltsgemeinschaft zusammenlebenden Verwandten (…) erwartet werden kann“, das ebenfalls in § 9 Abs. 5 SGB II enthalten ist. Insoweit stellt die Alg II-Verordnung in § 1 Abs. 2 und § 7 Abs. 2 einen festen Rechenweg auf, den das Landessozialgericht in seiner Entscheidung vom 21. Juli 2021 nachvollzogen hat (Berücksichtigung der Hälfte des bereinigten Einkommens, das den nach der Alg II-Verordnung zu ermittelnden Freibetrag für den unterstützenden Verwandten übersteigt, bei der Ermittlung des Bedarfs der mit diesem Verwandten in Haushaltsgemeinschaft lebenden hilfebedürftigen Person). Die sogenannte Einkommensbereinigung richtet sich nach § 11b SGB II, nach dem verschiedene Absetzbeträge vom erzielten Einkommen abzusetzen sind. Das verdeutlicht, dass die Lösung eines Rechtsstreits auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitsuchende häufig im Wortsinne errechnet werden kann, und vermittelt einen Eindruck von der Komplexität des Ineinandergreifens von juristischen Abgrenzungsschwierigkeiten und mathematischen Herausforderungen.

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