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Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht und Sozialgerichte : Thema: Gerichte & Justizbehörden

Ein zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses führendes Verhalten des Arbeitnehmers ist nur dann sozialwidrig im Sinne des SGB II, wenn dem Arbeitnehmer ein gesteigerter Verschuldensvorwurf zu machen ist (z.B. weil sein arbeitsrechtliches Fehlverhalten gerade dadurch motiviert war, dass er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beziehen wollte). Das Merkmal „Sozialwidrigkeit“ in § 34 SGB II erfordert einen gesteigerten Verschuldensvorwurf.

Letzte Aktualisierung: 08.08.2022

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 24. Februar 2022, L 6 AS 89/19 (PDF, 195KB, Datei ist barrierefrei)

Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) – SGB II-Leistungen – dienen der Sicherung des sozio-kulturellen Existenzminimums. Ein Anspruch auf diese Leistungen besteht jedoch nicht voraussetzungslos. Das SGB II ist vielmehr geprägt von dem Grundsatz der Eigenverantwortung vor Inanspruchnahme von existenzsichernden Leistungen. Dies ist mit dem weithin bekannten Grundsatz des „Förderns und Forderns“ beschrieben. Handeln Leistungsberechtigte diesem Grundsatz zuwider, kann dies einschneidende Folgen haben. Insbesondere können Pflichtverletzungen durch den Leistungsberechtigten zu Absenkungen des Leistungsanspruches nach den §§ 31 ff. SGB II führen. Dies bezeichnet das Gesetz mit dem Begriff der Sanktionen. Darüber hinaus kann bei einem sozialwidrigen Verhalten von Leistungsberechtigten nach § 34 SGB II ein Ersatzanspruch des SGB II-Leistungsträgers auf die bereits ausgezahlten Leistungen bestehen. Um einen solchen geht es in dem hier beschriebenen Fall.

Der Fall

Nachdem der Kläger – im Anschluss an eine dem Arbeitsgeber vorliegende Krankschreibung – nicht zur Arbeit erschienen war, wurde er fristlos gekündigt. Zwei Monate zuvor war der Kläger wegen angeblich schleppender Arbeitsweise und zwei Tage vor der Kündigung wegen des Nichterscheinens durch den Arbeitgeber abgemahnt worden. Tatsächlich war der Kläger weiter krankgeschrieben – er hatte seinen Arbeitgeber hierüber nur nicht rechtzeitig informiert.

Das beklagte Jobcenter bewilligte dem Kläger auf seinen Antrag knapp eineinhalb Monate nach der Kündigung SGB II-Leistungen. Mit Bescheid vom 11. November 2015 stellte er jedoch dem Grunde nach fest, dass der Kläger zum Ersatz dieser Leistungen verpflichtet sei. Der Kläger habe es zu der Kündigung kommen lassen und damit die Voraussetzungen für die SGB II-Leistungen schuldhaft herbeigeführt. Mit einem weiteren Bescheid vom 3. März 2016 setzte die Beklagte den Ersatzanspruch gegenüber dem Kläger in Höhe von insgesamt 3.895,41 Euro für den Zeitraum vom 1. August 2015 bis zum 12. Januar 2016 fest. Hiergegen unternahm der Kläger zunächst nichts, sodass die Bescheide bindend wurden. Im Folgenden beantragte er die Überprüfung des Bescheides vom 3. März 2016. Er machte geltend, keinen Anlass für die Kündigung gegeben zu haben und dass er nur aus Überforderung nicht gegen sie vorgegangen sei. Das Jobcenter ließ sich hiervon nicht überzeugen und hielt an ihrer Entscheidung zur Ersatzpflicht und der diesbezüglichen Rückforderung fest.

Die anschließende Klage des Klägers hatte keinen Erfolg. Das Sozialgericht lehnte eine Prüfung der grundsätzlichen Ersatzpflicht des Klägers ab, da es der Auffassung war, der Bescheid vom 11. November 2015 sei nicht Gegenstand des Überprüfungsverfahrens gewesen. Bedenken gegen die mit Bescheid vom 3. März 2016 geltend gemachte Ersatzforderung bestünden nicht. Gegen das Urteil des Sozialgerichts erhob der Kläger Berufung.

Die Entscheidung

Die Berufung des Klägers war erfolgreich. Das Landessozialgericht kam abweichend vom Sozialgericht zu dem Ergebnis, dass sich der Kläger bereits im Überprüfungsverfahren nicht nur gegen die Höhe der Ersatzforderung, sondern gegen die grundsätzliche Ersatzpflicht gewandt hatte. Hierüber hatte der Beklagte auch in diesem Verfahren vollumfänglich entschieden, sodass das Landessozialgericht sowohl die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 11. November 2015 als auch des Bescheides vom 3. März 2016 prüfte. Es kam zu dem Ergebnis, dass beide Bescheide rechtswidrig seien und nicht hätten ergehen dürfen. Das Landessozialgericht hat daher das Urteil des Sozialgerichtes und den Überprüfungsbescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Bescheide vom 11. November 2015 und vom 3. März 2016 zurückzunehmen. Die Voraussetzungen für die Geltendmachung eines Ersatzanspruches durch den Beklagten hätten nicht vorgelegen. Der Kläger habe nicht sozialwidrig gehandelt. Es sei schon zweifelhaft, ob der Arbeitgeber ihm überhaupt habe kündigen dürfen. Ein Verhalten des Klägers, dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar gemacht hätte, sei nicht dokumentiert. Ob der Kläger die Abmahnung, die zwei Tage vor der Kündigung erfolgt sei, zum Zeitpunkt der Kündigung überhaupt erhalten hatte, sei unklar. Auch wenn dies der Fall gewesen sein sollte, habe der Kläger bei dieser Zeitspanne nicht die Möglichkeit gehabt, hierauf zu reagieren. Dem Kläger sei darüber hinaus kein gesteigerter Verschuldensvorwurf zu machen. Dies sei für die Geltendmachung eines Ersatzanspruches allerdings erforderlich. Der Kläger sei weiterhin krankgeschrieben gewesen. Er habe es weder gerade auf die Kündigung ankommen lassen noch diese in missbilligenswerter Gleichgültigkeit in Kauf genommen.

Das Recht

Wird gegen Verwaltungsakte (Bescheide) kein Rechtsbehelf eingelegt, werden sie nach § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zwischen den Beteiligten bindend. Dies führt dazu, dass z.B. die Ersatzpflicht nach § 34 SGB II und die diesbezügliche Forderung feststehen, wenn gegen die sie regelnden Bescheide nicht rechtzeitig Widerspruch eingelegt wird. Dies gilt auch dann, wenn der Bescheid rechtwidrig ist, also nicht den gesetzlichen Grundlagen entspricht. Im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren besteht jedoch die Besonderheit, dass Bescheide, auch nachdem sie unanfechtbar – bestandskräftig – geworden sind, erneut überprüft werden können. Dies regelt § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Leistungsträger sind danach (innerhalb bestimmter Fristen) verpflichtet, Bescheide zurückzunehmen, wenn sie bei deren Erlass das Recht unrichtig angewandt haben oder von einem falschen Sachverhalt ausgegangen sind. Dies war hier der Fall.

Das beklagte Jobcenter war zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Kläger nach § 34 SGB II zum Ersatz der ihm bewilligten SGB II-Leistungen verpflichtet sei. Nach dieser Vorschrift ist zum Ersatz verpflichtet, wer vorsätzlich oder grob fahrlässig – also sozialwidrig – die Voraussetzungen für die Gewährung von SGB II-Leistungen herbeigeführt hat. Die Besonderheit an dem Ersatzanspruch ist, dass die Leistungsbewilligung des Jobcenters zutreffend und zu Recht erfolgte (weil der Kläger mittellos war und ohne die Leistungen des Jobcenters seinen Lebensunterhalt nicht hätte sichern können), aber das Jobcenter bezüglich dieser Leistungsbewilligung feststellt, dass der Betroffene sie in sozialwidrigerweise herbeigeführt hat. Dies führt dazu, dass das Jobcenter zwar „erstmal“ leistet, dann aber Ersatz für die getätigten Leistungen fordert, also im Ergebnis das Geld wieder zurückhaben will. Dies mutet merkwürdig an, da man sich auf den Standpunkt stellen könnte, dass das Jobcenter in einem solchen Fall dann ja gar nicht erst Leistungen bewilligen müsste bzw. dürfte. Rechtlich ist das Jobcenter jedoch zur Existenzsicherung verpflichtet, muss also bei aktueller Mittellosigkeit eintreten. Der Ersatzanspruch eröffnet dem Jobcenter aber die Möglichkeit, das Geld wieder zurückzuverlangen, wobei die Forderung aus einem solchen Ersatzanspruch erst durchgesetzt wird, wenn sich die finanziellen Verhältnisse des Betroffenen gebessert haben. Ob überhaupt ein Ersatzanspruch besteht, war im vorliegenden Fall die relevante Frage. Das Landessozialgericht hat hierzu entschieden, dass sehr hohe Voraussetzungen gelten und nicht jede Nachlässigkeit oder jedes fehlerhafte Handeln eines Betroffenen einen solchen Ersatzanspruch auslöst.

Ein Ersatzanspruch ist nur anzunehmen, wenn der betreffenden Person ein gesteigerter Vorwurf zu machen ist, existenzsichernde Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Das vorwerfbare Verhalten muss bewusst auf die Inanspruchnahme von SGB II-Leistungen abgezielt haben oder zumindest genauso schwer wiegen, wie ein solch bewusstes Herbeiführen. Diese Grundsätze hat das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 3. September 2020 zum Aktenzeichen B 14 AS 43/19 aufgestellt. Das Landessozialgericht hat dies zugrunde gelegt und ein sozialwidriges Verhalten des Klägers verneint. Hier habe die Kündigung zum Verlust des Arbeitsplatzes und im Folgenden zur Beantragung von SGB II-Leistungen geführt. Wenn bereits – wie in dem vorliegenden Fall – zweifelhaft sei, ob eine Kündigung hätte ausgesprochen werden dürfen, sei ein Ersatzanspruch des SGB II-Leistungsträgers ausgeschlossen. Das Landessozialgericht hat auch nicht verlangt, dass sich der Kläger gegen die (aus seiner Sicht unberechtigte) Kündigung hätte wehren müssen. Ein Vorwurf der Sozialwidrigkeit kann danach nur erhoben werden, wenn der Betroffene durch aktives, zu missbilligendes Handeln unmittelbar die Leistungsgewährung herbeiführt. Dies ist zum Beispiel einmal angenommen worden, in dem ein Arbeitnehmer den Arbeitgeber bestohlen und dann eine fristlose Kündigung erhalten hatte. Hier war die Argumentation des Gerichts, dass einem Arbeitnehmer klar sein müsse, dass auf einen betriebsinternen Diebstahl bei Entdeckung eine fristlose Kündigung folgen werde und dass damit dann auch klar sei, dass Leistungen nach dem SGB II benötigt würden.

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