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Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht und Sozialgerichte : Thema: Gerichte & Justizbehörden

Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) hinsichtlich des Vorliegens und des Umfangs von Pflegebedürftigkeit können die Grundlage einer sozialgerichtlichen Entscheidung bilden

Letzte Aktualisierung: 31.01.2020

Sozialgericht Schleswig, Gerichtsbescheid vom 31. Januar 2020, S 32 P 20/15 (PDF, 447KB, Datei ist nicht barrierefrei)

Seit dem 1. Januar 1995 besteht in der Bundesrepublik Deutschland – als jüngster Zweig der bereits durch die sogenannte Bismarck‘sche Sozialgesetzgebung im Kaiserreich ins Leben gerufenen gesetzlichen Sozialversicherungen – die im Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) geregelte Soziale Pflegeversicherung. Bis 1994 war das Risiko der Pflegebedürftigkeit ein privates Risiko, das aufgrund der demographischen Entwicklung hin zu einer im Durchschnitt immer älter werdenden Gesellschaft eine zunehmend große Anzahl von Menschen traf. In finanzieller Hinsicht fiel dieses Risiko überwiegend der mittleren, arbeitenden Generation zur Last, die nicht nur Kinder großzuziehen und Versicherungsbeiträge zur Finanzierung der (Alters-) Rente zu erwirtschaften hatte, sondern zusätzlich noch für die Pflege ihrer pflegebedürftigen Angehörigen zu sorgen hatte. Pflegebedürftigkeit war bis in die 1990er Jahre somit das einzige existenzielle soziale Risiko, das nicht über die gesetzliche Sozialversicherung abgedeckt war. Träger der Sozialen Pflegeversicherung nach dem SGB XI sind die bei den gesetzlichen Krankenversicherungen gebildeten, rechtlich verselbstständigten Pflegekassen. Versichert in der Sozialen Pflegeversicherung ist grundsätzlich derjenige, der auch in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert ist. Finanziert wird die Pflegeversicherung durch Beiträge, die grundsätzlich hälftig von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragen werden (§ 58 Abs. 1 SGB XI). Die Soziale Pflegeversicherung sieht Leistungen bei teilstationärer und vollstationärer Pflege vor, in der Lebenswirklichkeit am häufigsten werden indes Leistungen bei häuslicher Pflege gewährt, also für pflegebedürftige Versicherte, die noch in ihrer eigenen Häuslichkeit leben. Im Fokus steht insoweit meist das Pflegegeld, das gewährt wird, wenn die pflegebedürftige Person die Pflege durch eine nicht professionelle Pflegeperson – in der Regel durch eine/einen Familienangehörige(n) – gepflegt wird. Zum 1. Januar 2017 ist der für die Soziale Pflegeversicherung zentrale Begriff der Pflegebedürftigkeit grundlegend umgestaltet worden, vor allem, um Fähigkeitseinbußen infolge von Demenz besser Rechnung tragen zu können. Die vor nahezu genau vier Jahren erfolgte Neudefinition der Pflegebedürftigkeit bildet diese nun nicht mehr, wie in der Vergangenheit, durch drei Pflegestufen ab, sondern durch insgesamt fünf verschiedene Pflegegrade. Zur Feststellung des Vorliegens von Pflegebedürftigkeit und auch zur Feststellung des ggf. bestehenden Umfangs der Pflegebedürftigkeit haben die Pflegekassen nach § 18 Abs. 1 SGB XI ein Gutachten durch den MDK einzuholen. Dass dies – gerade bei Bestehen psychischer Beeinträchtigungen der pflegebedürftigen Person – Schwierigkeiten bereiten kann, lässt sich (wie auch die Auswirkungen der gesetzlichen Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs im sozialgerichtlichen Verfahren) am folgenden Fall ablesen.

Der Fall

Der seinerzeit 54-jährige Kläger beantragte im September 2012 die Gewährung von Pflegegeld durch die Pflegekasse. Bei dem stark übergewichtigen Kläger lagen eine erhebliche Gehbehinderung sowie krankhafte Hautveränderungen vor und es bestand das Erfordernis einer Blasen-Kathetisierung, im Vordergrund stand jedoch eine gravierende Persönlichkeitsstörung, die mit einer schweren Angst-Erkrankung einherging. Gepflegt wurde der Kläger von einem Bekannten, der ihm insbesondere Hilfestellung bei der Mobilität in der Wohnung (aber auch im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Arztbesuchen), bei der Körperwäsche, dem An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen und der Zubereitung von Mahlzeiten leistete. Die Angststörung des Klägers führte – auch nach einem Attest der ihn behandelnden Hausärztin – dazu, dass es für den Kläger eine geradezu unerträgliche Belastung darstellte, fremde Personen in seine Wohnung einzulassen. Aus diesem Grund lehnte der Kläger eine Begutachtung durch einen vom MDK in seine Häuslichkeit entsandten Gutachter ab. Stattdessen legte er dem von der Pflegekasse eingeschalteten MDK eine Reihe von ärztlichen Behandlungsunterlagen und ein von seinem pflegenden Bekannten geführtes Pflegetagebuch vor. Der MDK erstattete nach Einsichtnahme in diese Unterlagen im Februar 2013 ein Gutachten nach Aktenlage, das zu dem Ergebnis gelangte, dass sich eine Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI aus den eingereichten Unterlagen nicht ableiten lasse. Daraufhin lehnte die Pflegekasse den Antrag des Klägers ab, der dagegen Widerspruch erhob. Auch im Widerspruchsverfahren verweigerte sich der Kläger einer Untersuchung durch einen MDK-Gutachter in seiner Häuslichkeit, bot jedoch an, sich einer Begutachtung in den Räumlichkeiten des MDK zu unterziehen. Der MDK hielt jedoch eine persönliche Begutachtung des Klägers in dessen Wohnumfeld zur belastbaren Feststellung seiner Pflegebedürftigkeit für unabdingbar, worauf die Pflegekasse den Widerspruch des Klägers im Juli 2015 zurückwies. Ohne persönliche Begutachtung des Klägers in seinen privaten Räumlichkeiten käme die Feststellung von Pflegebedürftigkeit – auch nur gemäß der seinerzeitigen Pflegestufe I – nicht in Betracht. Das Widerspruchsverfahren hatte sich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren erstreckt, weil es auf Wunsch des Klägers für die Zeitdauer eines Verwaltungsverfahrens vor der Berufsgenossenschaft über die Gewährung eines Pflegegeldes aus der gesetzlichen Unfallversicherung geruht hatte. Gegen die ablehnende Entscheidung der Pflegekasse erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht, das zunächst zahlreiche Befund- und Behandlungsberichte von Ärzten des Klägers einholte und sodann eine Pflegesachverständige mit der Überprüfung einer Pflegebedürftigkeit des Klägers beauftragte. Auch dieser Sachverständigen verwehrte der Kläger den Zutritt zu seiner Wohnung, weshalb die Sachverständige ihr Gutachten unter Heranziehung der medizinischen Unterlagen nach Aktenlage erstattete. In ihrem im Mai 2018 gefertigten Gutachten gelangte sie zu der Einschätzung, dass bei dem Kläger seit Mai 2015 eine Pflegebedürftigkeit gemäß der seinerzeitigen Pflegestufe I vorliege und ihm deshalb ab dem 1. Januar 2017 Pflegegeld gemäß des Pflegegrades 2 zustehe. Die Pflegekasse erhob Einwände gegen die Feststellungen der Sachverständigen und daraufhin kam es im April 2019 schließlich doch noch zu einer Begutachtung des Klägers durch eine im Auftrag des MDK tätige Pflegefachkraft in den Räumlichkeiten des MDK. Das darauf gefertigte Gutachten des MDK kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger nach dem früheren Pflegebedürftigkeitsbegriff zwar nicht pflegebedürftig gewesen sei (weil die insoweit geltenden Kriterien der Pflegestufe I nicht erfüllt seien), nach dem seit dem 1. Januar 2017 geltenden Maßstab sei der Kläger jedoch pflegebedürftig gemäß des Pflegegrades 2.

Die Entscheidung

Das Sozialgericht ist der im MDK-Gutachten aus April 2019 getroffenen Einschätzung gefolgt und hat die Pflegekasse – unter Abänderung deren ablehnender Bescheide – verurteilt, dem Kläger seit dem 1. Januar 2017 Pflegegeld gemäß des Pflegegrades 2 zu zahlen. Zur Begründung der Entscheidung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, dass die Darlegungen der begutachtenden Pflegefachkraft in dem MDK-Gutachten gut begründet und deshalb sehr gut nachvollziehbar, zudem widerspruchsfrei und daher im Ergebnis überzeugend seien. Dies sei hinsichtlich des von der gerichtlich beauftragten Sachverständigen im Zeitraum ab Mai 2015 angenommenen Hilfebedarfs des Klägers im Zusammenhang mit Fahrten zu Psychotherapien hingegen nicht der Fall, denn insoweit sei nach den einschlägigen Begutachtungsrichtlinien ein Zeitaufwand nur anzuerkennen, wenn der Pflegebedürftige die Fahrt (oder den Behandlungstermin selbst) nur in Begleitung wahrnehmen könne. Dass dies bei dem Kläger der Fall sei, lasse sich anhand der vorliegenden ärztlichen Berichte aber nicht feststellen. Das Gutachten des MDK aus April 2019 bedürfe lediglich hinsichtlich der Feststellungen zum Bereich „Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen“ insoweit der Korrektur, als für das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe 5 weitere gewichtete Punkte in das Bewertungsschema einzustellen seien, wodurch sich für den Umfang der Pflegebedürftigkeit des Klägers eine Gesamtpunktzahl von 33,75 errechne. Dies entspreche – ebenso wie der im MDK-Gutachten ausgewiesene geringere Punktwert – einer Pflegebedürftigkeit gemäß des Pflegrades 2.

Das Recht

Wie bereits eingangs erwähnt, hat sich das Recht der Sozialen Pflegeversicherung zum 1. Januar 2017 an einem ganz zentralen Punkt – dem Begriff der Pflegebedürftigkeit – geändert. Dass dies hinsichtlich des Pflegegeldanspruchs eines Versicherten – bei gleichbleibender gesundheitlicher Situation – ganz konkrete Auswirkungen haben bzw. zu unterschiedlichen rechtlichen Ergebnissen für die Zeit vor dem 1. Januar 2017 und die Zeit danach führen kann, zeigt die Entscheidung des Sozialgerichts Schleswig. Eine solche Rechtsänderung ist von den Sozialgerichten stets genau im Blick zu halten, denn nicht selten vergehen zwischen dem Zeitpunkt der Beantragung einer bestimmten Leistung und dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung darüber, ob dem Versicherten die begehrte Leistung rechtlich zusteht, mehrere Jahre – auch wenn das vorliegende Beispiel, in dem zwischen den genannten Zeitpunkten fast siebeneinhalb Jahre lagen (was zudem maßgeblich auf die besondere Phobie-Erkrankung des Klägers und seinen Wunsch nach Aussetzung des Widerspruchsverfahrens vor der Pflegekasse zurückzuführen war) ein Extremfall ist. Streitgegenständlich ist in einem solchen Fall grundsätzlich der gesamte Zeitraum zwischen Antragstellung des Versicherten und mündlicher Verhandlung vor Gericht. In dieser Zeit etwa eintretende Rechtsänderungen sind deshalb zu beachten.

Bis Ende 2016 waren Bezugspunkte der Hilfebedürftigkeit bestimmte regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. So handelte es sich nach § 15 Abs. 1 SGB XI in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung bei erheblich Pflegebedürftigen, die Leistungen der Pflegestufe I beanspruchen konnten, um Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der haus­wirt­schaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausge­bildete Pflege­person für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaft­lichen Versorgung benötigte, musste dabei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens 46 Minuten zu entfallen hatten. Seit dem 1. Januar 2017 gilt demgegenüber, dass nach § 14 Abs. 1 SGB XI solche Personen pflegebedürftig sind, die gesundheitlich bedingte Beeinträchti­gungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Den Pflegebe­dürftigen wird abhängig von der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeiten oder Fähigkeiten ein Pflegegrade zwischen 1 und 5 zugeordnet. Der Pflegegrad selbst wird mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungs­instrumentariums ermittelt (vgl. § 15 SGB XI). Dafür werden die verbliebenen Fähigkeiten und Einschränkungen der Selbständig­keit des Versicherten in sechs Bereichen bewertet. Die für jeden Bereich ermittelten Einzel­punkte werden gemäß einer Anlage 2 zu § 15 SGB XI anschließend in gewichtete Punkte umgerechnet und ergeben sodann in ihrer Summe eine Gesamtpunktzahl, die für die Bestimmung des Pflegegrades ausschlaggebend ist. Erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder Fähigkeiten, die zur Anerkennung des Pflegegrades 2 führen, sind bei Vorliegen von mindestens 27 und nicht mehr als 47,5 gewichteten Punkten gegeben. Die maßgeblichen sechs Bereiche sind gemäß § 14 Abs. 2 SGB XI die Mobilität, die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, die Selbstversorgung, die Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen sowie die Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.

Daraus, dass das Gesetz zur Ermittlung des konkreten Unterstützungsbedarfs eines Pflegebedürftigen ausdrücklich auf ein pflegefachlich begründetes Begutachtungsinstrumentarium abstellt, wird deutlich, dass nicht nur die Pflegekasse im Verwaltungsverfahren auf den pflegefachlichen Sachverstand des MDK angewiesen ist, sondern auch die Sozialgerichte im Gerichtsverfahren den externen Sachverstand von Pflegesachverständigen benötigen. Gleichwohl ist das Gericht sowohl berechtigt, als auch verpflichtet, die Angaben von Sachverständigen kritisch zu überprüfen und zu hinterfragen. Ergibt sich danach, dass die Feststellungen eines MDK-Gutachtens überzeugender sind als die in einem durch einen gerichtlich beauftragten Sachverständigen erstellten Gutachten enthaltenen Feststellungen, ist das Gericht frei darin, den im Gutachten des MDK getroffenen Feststellungen zu folgen – wie es das Sozialgericht im vorliegenden Fall weitestgehend getan hat. Dies hat das Bundessozialgericht bereits mit Urteil vom 14. Dezember 2000 zum Aktenzeichen B 3 P 5/00 R (NJW 2001, 3431 f.) klargestellt.

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