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Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht und Sozialgerichte : Thema: Gerichte & Justizbehörden

Die Sozialgerichte können sich bei der Sachverhaltsaufklärung im Rahmen der ihnen obliegenden Amtsermittlungspflicht auch auf Gutachten stützen, die ein Sozialversicherungsträger bereits in einem dem Gerichtsverfahren vorangehenden Verwaltungsverfahren eingeholt hat

Letzte Aktualisierung: 26.02.2021

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 9. März 2021, L 8 U 54/18 (PDF, 188KB, Datei ist barrierefrei)

Das Sozialgericht ist nach der den Sozialgerichtsprozess regelnden Verfahrensordnung, dem Sozialgerichtsgesetz (SGG), verpflichtet, den zu beurteilenden Sachverhalt, der einem Rechtsstreit konkret zugrunde liegt, vom Amts wegen zu ermitteln. Die maßgebliche Vorschrift des § 103 Satz 1 SGG spricht gar von einer „Erforschung“ des Sachverhalts. Insoweit besteht ein großer Unterschied zu Prozessen, die vor dem Zivilgericht oder dem Arbeitsgericht geführt werden und in denen grundsätzlich der sogenannte Beibringungsgrundsatz gilt. Danach obliegt es den Parteien dieser Prozesse selbst, gegenüber dem Gericht all die Umstände vorzutragen, aus denen sich der von ihnen geltend gemachte Anspruch ergeben kann. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist es das Gericht, das aus eigener Veranlassung – juristisch: „von Amts wegen“ – den Sachverhalt insoweit aufklärt, wie es zur Entscheidung über den streitigen Anspruch erforderlich ist. Dabei darf sich ein Verfahrensbeteiligter freilich auch nicht in der Annahme, das Gericht werde den entscheidungserheblichen Sachverhalt schon von sich aus alleine ermitteln bzw. erforschen, vollständig in Schweigen hüllen und jede aktive Teilnahme am Prozess verweigern. Vielmehr trifft jeden Beteiligten an einem sozialgerichtlichen Verfahren – und damit regelmäßig insbesondere den klagenden Bürger/Versicherten, wie auch die beklagte Behörde bzw. den beklagten Sozialleistungsträger – eine Mitwirkungspflicht. Schon § 103 Satz 1 SGG spricht ausdrücklich davon, dass die Beteiligten bei der Erforschung des Sachverhalts von dem Sozialgericht „heranzuziehen“ sind. Die prozessuale Mitwirkungspflicht umfasst zuvorderst, dass der Beteiligte dem Gericht tatsächliche Umstände, die für seine Rechtsposition günstig sind, mitteilen muss; denn Ermittlungen ohne jede diesbezügliche Anhaltspunkte – und damit quasi „ins Blaue hinein“ – muss das Sozialgericht nicht durchführen. Als Mittel der Ermittlung stehen dem Sozialgericht neben der informatorischen Befragung der Beteiligten vor allem die Einholung eines Sachverständigengutachtens und die Befragung von Zeugen zur Verfügung. Daneben kommt dem Urkundenbeweis und der Beiziehung von Verwaltungs- oder auch Gerichtsakten anderer Verfahren eine große Bedeutung zu. Bevorzugt wird dort, wo es sich anbietet, auf den Sachverständigenbeweis zurückgegriffen, weil es sich dabei um ein vergleichsweise „sicheres“ Beweismittel handelt. Der Sachverständige als unbeteiligter Dritter bewertet dabei objektiv das Beteiligtenvorbringen. Ein Zeuge hingegen berichtet aus subjektiver, ggf. im konkreten Geschehen beeinträchtigter Wahrnehmung und steht nicht selten in bestimmten persönlichen Beziehungen zu den Beteiligten des Rechtsstreits, die sein Aussageverhalten zumindest beeinflussen könnten. Wie bereits im Beitrag vom 31. Januar 2021 für den Bereich der sozialen Pflegeversicherung dargestellt, ist das Sozialgericht nicht zwingend gehalten, selbst ein Sachverständigengutachten im Verlauf des Prozesses einzuholen, sondern kann auch auf bereits vorliegende Gutachten zugreifen und deren Inhalt im Rahmen der Beweiswürdigung bewerten. Dafür stellt der folgende Fall aus dem Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung, die im Siebten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VII) geregelt ist, ein Beispiel dar.

Der Fall

Der Kläger, ein Berufskraftfahrer, erlitt im Dezember 2013 einen Schlaganfall, bei dem einen Thrombus den inneren und äußeren Verlauf der Halsschlagader in Teilen blockierte. Zwei Tage vor Aufnahme in ein Krankenhaus zur stationären Akutbehandlung des Schlaganfalls hatte ein Sattelschlepper den von dem Kläger geführten LKW von hinten kommend seitlich touchiert, während der Kläger mit seinem LKW auf einer gesonderten Links-Abbiegespur hielt und sich nach links umblickte, um sich zu vergewissern, dass insbesondere keine Fußgänger durch den Abbiegevorgang gefährdet würden (Schulterblick). Der Sattelschlepper streifte die rechte Seite des LKW des Klägers. Dabei wurde unter anderem der rechte Außenspiegel des von dem Kläger geführten LKW getroffen und abgerissen. Der Fahrer des Sattelschleppers setzte seine Fahrt nach der Berührung der Fahrzeuge ohne anzuhalten fort. Der Kläger erklärte gegenüber der beklagten Berufsgenossenschaft (BG), dass er infolge des Aufpralls bzw. der Berührung der Fahrzeuge mit seinem Kopf im Kinnbereich auf die Oberkante des heruntergekurbelten Fahrerfensters geprallt sei, wodurch bei ihm leichte Kopf- und Kieferschmerzen eingetreten seien und er sich in den Stunden und Tagen nach dem Unfall (bis zur Aufnahme in das Krankenhaus) erschöpft gefühlt habe. Als Folge dieses Aufpralls sei es zwei Tage später zu dem Schlaganfall gekommen. Im Verwaltungsverfahren erhielt die Beklagte voneinander abweichende medizinische Einschätzungen: Die Ärzte der neurologischen Abteilung eines Universitätsklinikums hielten es für wahrscheinlich, dass durch den Aufprall des Kopfes des Klägers auf der LKW-Fensterscheibe eine Aortenwandverletzung der internen Halsschlagader entstanden war, die den Thrombus, der schließlich die Ursache des Schlaganfalls sei, ausgelöst habe. Demgegenüber hielt ein Durchgangsarzt im berufsgenossenschaftlichen Krankenhaus eine Verknüpfung zwischen dem Unfallgeschehen und der Entstehung des zum Schlaganfall führenden Thrombus für unwahrscheinlich. Ein von der BG beauftragter Beratungsarzt hielt den Eintritt des Schlaganfalls wiederum mit einiger Wahrscheinlichkeit für die Folge des Unfallgeschehens. Die beklagte BG lehnte die von dem Kläger begehrte Entschädigungsleistung unter Hinweis darauf ab, dass der von dem Kläger reklamierte Aufprall mit Kinn- bzw. Halsbereich auf der Fensterkante der LKW-Fahrerkabine – also das äußere Unfallgeschehen – nicht hinreichend wahrscheinlich sei. Eher sei bei dem von dem Kläger geschilderten Unfall mit einem Aufprall der linken Schulter gegen die Wand der Fahrerkabine zu rechnen. Auf Widerspruch des Klägers holte die BG hierzu ein Sachverständigengutachten der DEKRA ein. Der dortige Gutachter wertete die aktenkundigen Unterlagen zum Schaden an dem von dem Kläger geführten LKW aus und führte eine sogenannte Insassensimulation des Unfalls durch. Abschließend gelangte der Sachverständige zu der Einschätzung, dass die aufgrund der Kollision entstehende Wankbewegung der Fahrgastzelle des klägerischen LKW nicht ausreiche, um einen Aufprall des Kopfes im Bereich der Fahrertür auszulösen, soweit der Kläger ordnungsgemäß angeschnallt gewesen sei. Nachdem die beklagte BG den Widerspruch daraufhin zurückgewiesen hatte, erhob der Kläger Klage. Das Sozialgericht holte eine ergänzende schriftliche Stellungnahme des DEKRA-Gutachters ein, in der dieser erklärte, dass kollisionsmechanisch eine Bewegung des Körpers des Klägers nach hinten rechts zu erwarten gewesen wäre, nicht aber nach links; schon gar nicht so weit nach links, dass Teile des Kopfes aus dem – mindestens zu zwei Dritteln geöffneten – Fahrerfenster herausgeragt hätten. Gegen das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts hat der Kläger Berufung zum Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erhoben.

Die Entscheidung

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht hat die Entscheidung des Sozialgerichts bestätigt. Es könne im Ergebnis nicht festgestellt werden, dass der Kläger infolge der Kollision der beiden LKW einen Arbeitsunfall erlitten habe. Es bestünden gewichtige Zweifel daran, dass der Kläger infolge der Berührung des von hinten an seinem LKW vorbeifahrenden Sattelschleppers im Bereich des Kiefers und in der Nähe des Verlaufs der Halsschlagader auf die heruntergelassene Seitenscheibe geprallt sei. Diese Zweifel ergäben sich bereits aus dem im Widerspruchsverfahren eingeholten DEKRA-Gutachten sowie aus der im Klagverfahren vor dem Sozialgericht vorgelegten ergänzenden schriftlichen Stellungnahme des dortigen Gutachters. Gerade in Rahmen der ergänzenden Stellungnahme habe der Gutachter im der Kollisionssimulation aufgenommene Fotos zur Akte gereicht, auf denen zu sehen sei, wie weit der Kläger durch die rechtsseitige Berührung seines LKW nach links – in Richtung Fahrertür – bewegt worden sein müsse, um den von ihm reklamierten Aufprall auf der Fensterscheibe zu erleiden. Eine solch extreme Links-Bewegung des Klägers sei keinesfalls derart wahrscheinlich, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könne, dass ein Aufprall des Klägers im Bereich des Kinns bzw. Halses auf der geöffneten Fensterscheibe erfolgt sei. Soweit der Kläger in der Berufungsverhandlung dargelegt habe, sich quasi aus dem Fahrerfenster herausgelehnt zu haben, um vor dem Abbiegen nach links hinten zu schauen, sei das nicht glaubhaft. Weitere Ermittlungen seien aufgrund dieser Einlassung nicht veranlasst. Im Übrigen sei auch nicht erwiesen, dass der Kläger infolge des von ihm behaupteten Aufpralls auf der Oberkante der Fensterscheibe im Halsbereich den Schlaganfall erlitten habe; insoweit sei insbesondere eine durch den Unfall erlittene Aortenwandverletzung der internen Halsschlagader nach Auswertung der vorliegenden medizinischen Unterlagen nicht erwiesen. Dem Kläger komme in diesem Zusammenhang auch keine Beweiserleichterung in Gestalt des Anscheinsbeweises zugute.

Das Recht

Für einen Arbeitsunfall ist nach § 8 Abs. 1 SGB VII erforderlich, dass der Versicherte zum Zeitpunkt des Unfalls einer versicherten Tätigkeit nachging (er also „arbeitete“) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Fraglich ist dabei, wie sicher die einzelnen Umstände feststehen müssen und wer bei Zweifeln was beweisen muss.

Für das Unfallereignis, den Gesundheitsschaden sowie die Tatsachen, die den inneren Zusammenhang der Verrichtung im Zeitpunkt des Unfalls zur versicherten Tätigkeit begründen, gilt der sog. „Vollbeweis“– diese Umstände müssen also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für das Gericht feststehen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, BSGE 96, 196 ff.). Dafür ist zwar keine absolute Gewissheit erforderlich; verbliebene Restzweifel sind bei einem Vollbeweis jedoch nur solange unschädlich, wie sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten. Anders formuliert: es ist ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit herbeizuführen, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Das Landessozialgericht wie auch bereits das Sozialgericht haben dem Kläger letztlich nicht geglaubt, dass der Unfall tatsächlich so passiert ist, wie es der Kläger vorgetragen hatte. Seine Zweifel hat das Landessozialgericht in seinem Urteil maßgeblich auf die Feststellungen des DEKRA-Gutachters gestützt, der im Auftrag der beklagten BG im Widerspruchsverfahren tätig geworden war. Ein solches Verwaltungsgutachten findet im Sozialgerichtsprozess im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 415 – 444 Zivilprozessordnung; ZPO) Berücksichtigung. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass ein Gericht im Wege der freien richterlichen Beweiswürdigung ein Verwaltungsgutachten seiner Entscheidung auch als alleinige Beweisgrundlage zugrunde legen kann (BSG, Beschluss vom 26. Mai 2000, B 2 U 90/00 B) und dass es keine Beweisregel gibt, nach der einem Verwaltungsgutachten stets ein geringerer Beweiswert zukomme als einem vom Sozialgericht selbst in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten (BSG, Urteil vom 14. Dezember 1994, 3/1 RK 65/93). Danach war das Landessozialgericht hier befugt, die Feststellungen aus dem Verwaltungsgutachten der DEKRA als Urteilsgrundlage zu verwerten. Eine besondere Nähe zur oder gar eine Interessenverflechtung mit der auftraggebenden BG war hier zudem nicht zu befürchten. Denn bei der DEKRA handelt es sich um eine 1925 gegründete international tätige Prüfgesellschaft im Sachverständigenwesen, die in keiner rechtlichen Beziehung zu den Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung steht. Mit rund 44.000 Mitarbeitern sowie einem Umsatz von 3,2 Milliarden Euro im Jahr 2020 ist DEKRA die weltweit größte nicht-börsennotierte Prüfgesellschaft. Der Konzern befasst sich schwerpunktmäßig mit der Prüfung von Kraftfahrzeugen und technischen Anlagen, bietet aber auch weitere Dienstleistungen an. Das Sozialgericht hatte vom DEKRA-Sachverständigen eine weitere Stellungnahme angefordert und die ergänzenden Ausführungen ebenfalls zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Hier handelte es sich um einen originären Sachverständigenbeweises nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 402 ZPO, da insoweit nicht nur ein bereits vorliegendes schriftliches Gutachten (Urkunde) ausgewertet wurde, sondern das Gericht selbst diese Stellungnahme angefordert hatte. Dass die gutachtlichen Feststellungen im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens erfolgt waren, hindert das zweitinstanzliche Gericht – das Landessozialgericht – nicht daran, die gutachtlichen Feststellungen im Rahmen seiner Überzeugungsbildung als Sachverständigenbeweis zu berücksichtigen.

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