Sturmfluten entstehen während auflandiger Starkwinde. Wenn diese über das Meer fegen, schieben sie große Wassermengen vor sich her. Trifft die Wassermasse auf die Küste, wird sie dort aufgestaut und bewirkt erhöhte Wasserstände. Dabei gilt, umso stärker der Wind, umso höher der Windstau. In Buchten und Förden kann der Windstau um mehrere Dezimeter höher ausfallen als an der offenen Küste.
Die Sturmflut von 1872 erreichte in Schleswig-Holstein am 13. November ihren Höchstwasserstand. Die Wetterlage, die zu dieser extremen Sturmflut führte, begann jedoch bereits zwei Wochen früher. Vom 1. bis 10. November erzeugten Tiefdruckgebiete über Skandinavien in der südwestlichen Ostsee starke Westwinde. Diese drückten das Meerwasser von der deutschen Ostseeküste nach Osten weg, wodurch die Wasserstände hier sanken. Zum Ausgleich kam es zu Wasserzuflüssen aus der Nordsee über das Kattegat, wodurch die Wassermenge in der Ostsee insgesamt zunahm. Im Ergebnis lag der Wasserstand am 10. November an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste sogar leicht über Normal. Um den 10. November herum änderte sich die Wetterlage. Über Skandinavien entwickelte sich ein Hochdruckgebiet, begleitet von einem Tiefdruckgebiet in Mitteleuropa. Hierdurch drehte die Windrichtung auf Ost. Das Wasser begann mit dem Ostwind zurückzufließen. Beide Wettersysteme intensivierten sich kontinuierlich bis zum 13. November, als starke Luftdruckgradienten in der südwestlichen Ostsee einen Nordost-Orkan auslösten. Die Spitzenwindgeschwindigkeiten in Schleswig-Holstein traten am Vormittag auf. In Kiel wurde das Maximum von etwa 11 Beaufort gegen 10 Uhr erreicht. Durch diese Wetterentwicklung wurde das Wasser über zwei Tage mit zunehmender Wucht gegen die deutsche Küste gedrückt. Am 13. November bildete sich schließlich eine sehr schwere Sturmflut aus.
Obwohl die Windgeschwindigkeit am späten Vormittag ihr Maximum erreichte, traten die Höchstwasserstände in Schleswig-Holstein erst am Nachmittag auf. So stieg beispielsweise in Kiel der Wasserstand trotz abnehmender Winde noch etwa fünf Stunden um insgesamt einen halben Meter. In Schleswig wurde der Höchstwasserstand sogar erst abends gegen 21:30 Uhr erreicht, 10 Stunden nach der Sturmspitze. Bis heute ist es der Wissenschaft nicht abschließend gelungen, diese zeitliche Diskrepanz zu erklären.
Im Deutschen Gewässerkundlichen Jahrbuch Ostseeküste sind für neun Pegelstandorte in Schleswig-Holstein am 13. November 1872 historische Höchstwasserstände aufgelistet. Der Pegel Lübeck verzeichnete mit 3,37 m über Normalhöhennull den höchsten Wasserstand. Die Bezugsfläche Normalhöhennull (NHN) entspricht in etwa dem mittleren Meeresspiegel bzw. Mittelwasser. Am Pegel Fehmarnsund wurde der "niedrigste" Höchstwasserstand mit 2,75 m über NHN registriert. Ein interner Bericht des Wasserwirtschaftsamtes Lübeck aus dem Jahre 1946 listet für jeden Deich- und Entwässerungsverband auf der Insel Fehmarn Höchstwasserstände der Sturmflut 1872 auf. Diese waren von den Verbänden unmittelbar nach der Sturmflut eingemessen worden. Demnach traten auf Fehmarn die niedrigsten Wasserstände mit etwa 2,4 m über NHN an der windabgewandten Westküste auf; die Höchsten mit 2,7 m über NHN im Nordosten und im Fehmarnsund. In einer umfassenden Abhandlung über die Sturmflut 1872 beschrieb der „Geheime Oberbaurat“ Otto Baensch (1875) unter anderem die Entwicklung der Wasserstände in Preußen. Für eine Vielzahl von Lokationen listete er Höchstwasserstände auf, zum Beispiel für acht Stellen in der Schlei. Viele seiner Höhenangaben zeigen jedoch größere Abweichungen von den amtlich festgestellten Höchstwasserständen.
Wie außergewöhnlich war die Sturmflut von 1872
Die Sturmflut 1872 wird in den Medien auch als Jahrtausendhochwasser bezeichnet. In der Wissenschaft wird von einem sogenannten singulären oder einzigartigen Ereignis gesprochen. Nachfolgend wird beschrieben, wie außergewöhnlich die Sturmflut war und ob sich ein solches Ereignis in der Zukunft wiederholen könnte.
Für den Pegel Lübeck-Travemünde liegen seit 1826 für jedes Jahr die Höchstwasserstände vor. Mit fast 200 Jahren ist dies weltweit die längste ununterbrochene Aufzeichnung von Jahreshöchstwasserständen. Die Sturmflut vom 13. November 1872 erreichte in Travemünde eine Höhe von 3,29 m über NHN. Der zweithöchste Sturmflutwasserstand wurde hier im Jahre 1904 mit 2,15 m über NHN registriert. Das ist mehr als einen Meter niedriger als der Höchstwasserstand von 1872. Insgesamt wurde am Pegel Lübeck-Travemünde (außer 1872) nur zweimal ein Höchstwasserstand von mehr als zwei Metern über NHN registriert.
Für frühere Jahrhunderte müssen wir uns auf sogenannte Flutmarken an Gebäuden verlassen. Die höchsten Markierungen stammen von Sturmfluten aus den Jahren 1625, 1694 und 1872 in Lübeck (ehemaliger Blauer Turm), Schleswig (ehemalige Wassermühle Gottorf) und Flensburg (Kompagnietor). Demnach reichten die Sturmfluten von 1625 und 1694 bis auf etwa 0,6 m an den Höchstwasserstand von 1872 heran.
In den Chroniken der Hansestadt Lübeck wird schließlich für das Jahr 1320 eine große Sturmflut erwähnt: "To Lubecke dar vlot de Travene uppe de Holstenbruighen unde makede dar an en grot brak. Vort ghing dat water over den dam. Dar verdrunken binnen den husen lude unde quekes vele." In einer Fußnote schrieb der Chronist Detmar vom Franziskanerkloster Sankt Katharinen in Lübeck: "Das Wasser im Hafen der Trave soll von seinem üblichen Stand auf eine Höhe von sieben Ellen angehoben worden sein" (übersetzt aus dem Lateinischen). Sieben Ellen entspricht einer Höhe von etwa 3,1 m. Zuverlässige Messungen des "üblichen Standes" und des Höchstwasserstandes waren allerdings im 14ten Jahrhundert noch nicht möglich. Daher ist diese Höhenangabe, zumal aus zweiter Hand, mit großer Vorsicht zu genießen. Aus historischer Sicht ist die Angabe sehr interessant, handelt es sich wahrscheinlich um die älteste Höhenangabe einer Sturmflut (zumindest) in Deutschland.
Im Ergebnis stellt die Sturmflut vom 13. November 1872 an der Schleswig-holsteinischen Ostseeküste, zumindest über die letzten 900 Jahre, ein einmaliges Ereignis dar. Für die Zukunft kann dies jedoch nicht gesagt werden. Infolge des menschgemachten Klimawandels steigt der Meeresspiegel weltweit bereits heute etwa zweimal so schnell wie im letzten Jahrhundert. In der Zukunft wird sich dieser Anstieg weiter beschleunigen. So legt der Generalplan Küstenschutz des Landes Schleswig-Holstein (MELUND 2022) seinen Planungen einen mittleren Meeresspiegelanstieg von 0,8 m in diesem Jahrhundert zugrunde; bis 2150 können es sogar 1,35 m sein. Die Sturmfluten von Januar 2017 und 2019, die eine Höhe von etwa 1,8 m über NHN in Lübeck erreichten, würden demnach Ende dieses Jahrhunderts auf über 2,5 m Höhe auflaufen. Mitte des nächsten Jahrhunderts würden sie sogar einen Höchstwasserstand erreichen, der an den von 1872 heranreicht. Das klingt heute vielleicht weit weg, es entspricht aber nur etwa vier Generationen.
Baensch, O.: Die Sturmfluth von 12./13. November 1872 an den Ostseeküsten des Preußischen Staates. In: Zeitschrift für Bauwesen, Ausgabe XXV, 155−220, 1875.
Hofstede, J.; Hamann, M.: The 1872 catastrophic storm surge at the Baltic Sea coast of Schleswig-Holstein; lessons learned? Die Küste, 92, 2022. https://doi.org/10.18171/1.092101.
MELUND: Generalplan Küstenschutz des Landes Schleswig-Holstein – Fortschreibung 2022. Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung, Kiel, 2022.
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