Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Leid- und Unrechtserfahrungen fand durch das Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck unter der Leitung von Prof. Dr. med. Cornelius Borck statt. Prof. Borck kooperierte dabei u.a. mit Prof. Dr. Gabriele Lingelbach vom Historischen Seminar und Prof. Dr. Sebastian Graf von Kielmansegg von der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Die Auseinandersetzung mit Leid und Unrechtserfahrungen in psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen der Behindertenhilfe ist eine gesellschaftliche Herausforderung und eine wissenschaftliche Aufgabe der zeithistorischen Forschung. Sie fußt auf einer Problematisierung der Zustände in Heimen der Behindertenhilfe und psychiatrischen Kliniken, die bereits in den 1960ern einsetzte und in den 1970ern mit der Psychiatrie-Enquete die bundespolitische Ebene erreichte.
Das Land Schleswig-Holstein hat die Universität zu Lübeck mit folgenden Studien beauftragt:
- Die wissenschaftliche Untersuchung der Praxis der Medikamentenversuche in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie in den Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrien in den Jahren 1949 bis 1975.
- Die wissenschaftliche Untersuchung zu den Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein zwischen 1949 und 1975. Bei dieser Studie wurde der Untersuchungszeitraum inzwischen auf die Zeit bis 1990 erweitert.
Die Auseinandersetzung mit Leid und Unrechtserfahrungen in psychiatrischen Kliniken und Heimen der Behinderteneinrichtung ist eine gesellschaftliche Herausforderung und eine wissenschaftliche Aufgabe der zeithistorischen Forschung. Sie fußt auf einer Problematisierung der Zustände in Heimen der Behindertenhilfe und psychiatrischen Kliniken, die bereits in den 1960ern einsetzte und in den 1970ern mit der Psychiatrie-Enquete die bundespolitische Ebene erreichte.
Mit dem 2009 initiierten „Runden Tisch Heimerziehung“
gelangten auch Gewalt-, Leid- und Unrechtserfahrungen von Menschen in Psychiatrien und Heimen der Behindertenhilfe erneut auf die politische Agenda. Die in der Folge 2016 errichtete „Stiftung Anerkennung und Hilfe“
richtete sich an diese Betroffenen, um ihnen eine Entschädigung für das von ihnen erfahrene Leid und Unrecht zu ermöglichen. Menschen, die Leid und Unrecht in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie erlebt haben, konnten bis zum 30. Juni 2021 ihre monetären Ansprüche realisieren.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung flankiert diese Unterstützungsmaßnahme, denn im Rahmen der erneuten Debatte löste eine Studie von Sylvia Wagner zu „Arzneimittelstudien an Heimkindern“
ein umfangreiches Echo in Medien und Öffentlichkeit aus. In der Folge gaben einzelne Bundesländer, psychiatrische Einrichtungen und Heime Studien zu diesem Thema der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte in Auftrag. Hier liegen inzwischen viele Ergebnisse vor, die den Verdacht auf unethische und ungerechtfertigte Medikamententestungen und -verabreichungen erhärten und Belege dafür liefern. Damit haben diese Studien Einblicke in die therapeutische Praxis in der bundesdeutschen Psychiatrie der Nachkriegszeit eröffnet, die zugleich auch nähere Erkenntnisse zur Mentalitätsgeschichte ermöglichen, welche im Gegensatz zu den nationalsozialistischen Medizinverbrechen und „Euthanasie“
-Morden in vielen Teilen noch wenig erforscht ist.
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen hat das Land Schleswig-Holstein das Forschungsprojekt zu Medikamentenversuchen in Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrien in Schleswig-Holstein im Zeitraum von 1949 bis 1975 in Auftrag gegeben, das den komplexen historischen Handlungskontext aus rechtlichen Rahmenbedingungen, behördlicher Aufsichtspflicht, ärztlichem Berufsethos und institutionellem Setting genauer untersucht. Dazu wurden von einem Kooperationsteam aus ausgewiesenen Expertinnen und Experten der Zeitgeschichte, Rechtswissenschaft, Medizinethik und Psychiatrie zeitgenössische Fachpublikationen, die Aktenüberlieferung der zuständigen Ministerien Schleswig-Holsteins und die Verwaltungs- sowie Patientenakten von den Landeskrankenhäusern, Universitätspsychiatrien und Heimen der Behindertenhilfe Schleswig-Holsteins ausgewertet.
Insgesamt konnten 43 Medikamentenerprobungen und 37 Anwendungsbeobachtungen von Arzneimitteln nachgewiesen werden, die in den Landeskrankenhäusern Schleswig, Neustadt und Heiligenhafen, in den kirchlichen Einrichtungen in Rickling und Kropp sowie in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Kiel und dem Städtischen Krankenhaus Lübeck-Ost/Medizinische Akademie Lübeck vorgenommen wurden. Die Prüfung von Psychopharmaka stellte keine heimliche, sondern eine durchaus bekannte und verbreitete Praxis dar. Hinweise auf Einwilligungen oder eine Aufklärung über die Anwendung neuer Medikamente ließen sich in keiner Quelle finden, obwohl dies bereits die damaligen ethischen Normen vorgeschrieben hatten.
Die Anwendung von Psychopharmaka fand innerhalb eines desolaten Versorgungssystems für Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen statt, das bestimmt war von überfüllten Einrichtungen, Personalmangel, schlechter Ausstattung, dauerhafter Unterfinanzierung und Sanierungsrückständen. Diese Zustände waren den Einrichtungsträgern und den zuständigen Landesministerien bekannt und wurden von ihnen verantwortet.
Hier setzt die zweite Studie zu Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein zwischen 1949 und 1990 an, die wiederum bei einer Auswertung zeitgenössischer Fachpublikationen, öffentlicher Diskussionen und der Aktenüberlieferung ansetzt. Darüber hinaus nimmt bei dieser Studie der Einbezug von Betroffenen und ihren Erfahrungen sowie der kontinuierliche Austausch mit der schleswig-holsteinischen Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung Anerkennung und Hilfe eine ganz zentrale Rolle ein. Mit der Ausdehnung des Untersuchungszeitraums auf die Jahre bis 1990 betritt diese Studie Neuland bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung für Westdeutschland.
Mit der Erörterung dieser Fragen sollten die wissenschaftlichen Untersuchungen auch einen Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der psychiatrischen Versorgung und zur Entwicklung der Einrichtungen für Behindertenhilfe in Schleswig-Holstein leisten.
Den Abschlussbericht der Untersuchung zu den Medikamentenversuchen finden Sie hier. Mit dem Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Untersuchung der Praxis der Medikamentenversuche in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie der Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrien in den Jahren 1949 bis 1975" der Universität zu Lübeck hat sich auch der Sozialausschuss des schleswig-holsteinischen Landtags in seiner 69. Sitzung am 22. April 2021 befasst.
Den Zwischenbericht der wissenschaftlichen Untersuchung zu Leid und Unrecht bei der Unterbringung in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinderpsychiatrie und Jugendpsychiatrie in den Jahren 1949 bis 1975, der im Rahmen der 65. Sitzung des Sozialausschusses des schleswig-holsteinischen Landtags am 14. Januar 2021 beraten wurde finden Sie hier bzw. in leichter Sprache hier.
Das Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck und die weiteren an dem Forschungsprojekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben dem Sozialministerium Ende 2021 den Abschlussbericht zu ihrer wissenschaftlichen Untersuchung zu Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 1949 bis 1990 vorgelegt. Den Bericht finden Sie hier.
Hier finden Sie eine Kurzfassung des Berichts in Leichter Sprache.
Die Pressemitteilung vom 28.01.2022 finden Sie hier:
Veröffentlichung des Abschlussberichts der wissenschaftlichen Untersuchung der Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 1949 bis 1990